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Brief vom 3./15. April 1860 - Durlach

Vielgeliebte Geschwister!
Schon wieder ist ein Jahr verstrichen, seit ich Euren letzten Brief vom 28. Febr. v. J. erhalten habe, und ich finde es an der Zeit, meinen längst gefassten Vorsatz in Ausführung zu bringen und an Euch zu schreiben, der heutige regnerische erste Osterfeiertag bietet mir hierzu die beste Gelegenheit, und ich benachrichtige Euch zunächst, dass wir uns alle, bis auf unsere Tochter Bertha, welche schon längere Zeit am Fieber leidet, der besten Gesundheit zu erfreuen haben; und so leidend ich, hauptsächlich in den letzten Jahren meiner Dienstzeit immer war, so gesund bin ich jetzt, seit ich den Schuldienst aufgegeben habe; aber, werdet ihr Euch fragen, mit was wird er sich beschäftigen, wenn er nicht mehr Schullehrer ist? Und wundern werdet Ihr Euch, dass ich, wie meine beiden ältesten Brüder, ebenfalls, Handelsmann geworden bin, nur dass ich keine Lafke (Bem. der Red. russ.) oder Laden habe und das Geschäft nicht auf eigene Faust führe. In der Kriegszeit, als das nahe Berdjansk von Engländern und Franzosen bombardiert wurde, und viele der dortigen Bewohner eine Zufluchtsstätte in den Kolonien suchten, wurde ich mit einem Italiener Namens Thomasso Laura bekannt. Nach dem Friedensschlusse, als die Geschäfte ihren Fortgang nahmen, gab mir der genannte Kaufmann Aufträge, hiesige Produkte, als Seide, Seidenkokons, Seidenwürmereier (Bem. der Red. Seidenspinnereier), Wolle, rohes Leder und dergleichen für das Ausland aufzukaufen; das fortwährende hin- und herfahren, welches der Betrieb der Geschäfte mit sich brachte, hat den wohltätigsten Einfluss auf meine aufs äußerste geschwächte Gesundheit zur Folge, und ich gab deshalb meinen früher gefassten Plan und das mir gemachte Anerbieten, Landwirtschaft zu treiben, auf. Zwei Freunde von mir hatten nämlich 5000 Dessjatinen Kronlands ungefähr 100 Wersten von hier auf 12 Jahre gepachtet, dieselben boten mir an, 30 Dessjatinen (ungefähr 60 Acker) Ackerland, Heuschlag, soviel ich nötig hätte, und Viehweide, soviel ich wollte, unentgeltlich mir zu überlassen, wenn ich nur zu ihnen ziehen und die Ökonomie-Rechnung übernehmen wollte. Nachdem ich 10 Jahre, nämlich von 1847 bis 1857 als Schullehrer gedient, in der Kolonie Alt-Nassau aber keine passenden Räumlichkeiten zu meinen jetzigen Geschäften bekommen konnte, so fand ich mich genötigt, in der 8 Wersten von Alt-Nassau gelegenen Kolonie Durlach einzumieten, wo ich außer einem geräumigen Wohnhause Stallung, Scheune und Magazin, auch etwas Land habe, und wohne nun seit anfangs September v. J. hier in Durlach, jetzt haben wir die Pflug- und Saatzeit, 5 Acker Weizen und 2 Acker Gerste habe ich bereits bestellt, ebenso viel werde ich nach Ostern pflügen und säen lassen, zur Betreibung der Landwirtschaft habe ich einen Knecht und meinen ältesten Sohn, doch lege ich auch mit Hand ans Werk, so habe ich schon selbst gepflügt und das Meiste selbst gesät, ich möchte mir nebenbei alle Vorteile und Wissenschaft der Landwirtschaft aneignen.
Meine Familie wurde am 23. November 1858 durch einen Sohn vergrößert, der Gustav Adolph heißt und einen losen Schlingel abzugeben scheint; wenn bei mir fortgeht, wird bald kein Namen mehr im Kalender bleiben, denn ich werde alle brauchen. Wir haben dieses Jahr einen sehr gelinden Winter gehabt. Nur der Februar war kalt und rau, vor Weihnachten und bis Lichtmess haben wir mit wenig Ausnahmen keinen Frost gehabt. In der Zeitung habe ich gelesen, dass dieses Frühjahr eine nicht unbedeutende Anzahl Leute aus der Gegend von Nordhausen nach Kaukasien ziehen will, wo ein Brauer aus Nordhausen eine Strecke Landes käuflich an sich gebracht haben soll; diese Leute werden sich sehr tauschen und dem Klima bald erlegen sein; vor ungefähr 16 Jahren sind auch viele Menschen von hier dahin gezogen und nur wenige von da zurückgekommen, die meisten wurden schnell durch dort grassierende Krankheiten weggerafft. Eine neue Ausflucht für deutsche Auswanderer, vornehmlich Landwirte, wäre das vor einigen Jahren von China an Russland abgetretene, über 80.000 Quadratwersten große Amurland; hiesige Mennoniten haben im vorigen Jahre eine Deputation dahingeschickt, die Land und Klima nicht genug loben können, im nächsten Jahre werden von hier solche Mennoniten, die nicht im Besitze von Wirtschaften sind, dorthin ziehen, sie bekommen 120 Dessjatinen Land per Familie gegen ganz geringen Landzins und viele Freiheiten eingeräumt, der unumschränkte Gebieter dieses Landes, Generalgouverneur von Ost-Sibirien, General Murajow Graf Amursky (Bem. der Red.Nikolai Nikolajewitsch Murawjow-Amurski), ist den Deutschen sehr gewogen und kennt keinen anderen Wunsch, als das Land zu besiedeln, von hier aus ist es freilich noch die hübsche Strecke von über 8.000 Wersten, die fast ganz zu Lande zurückgelegt werden muss.
Dir, lieber Louis, gratuliere ich zu Deiner neuen Stellung, die Du unter Deinen Mitbürgern einnimmst und die unserer Familie nur Ehre macht; dem Bernhard werde ich zum Ehestand nur dann erst gratulieren, wenn er mir seine Verbindung selbst anzeigt; dass sich die Verhältnisse der Agnes gebessert haben, hat mich sehr gefreut, und ich ersuche Euch, lieben Brüder, sie und ihren Mann herzlich von mir zu grüßen. Da zunächst noch keine Hoffnung vorhanden ist, dass ich Euch besuchen kann, und ihr, meine beiden ältesten Brüder, Euch nicht bequemen werdet, eine Reise hierher zu machen, so wüsste ich außer dem Briefwechsel noch ein Auskunftsmittel, einander Lage und Verhältnisse gegenseitig mitzuteilen; nämlich Dein ältester Sohn, lieber Karl, wird bald in den Jahren sein, wo Du ihn auf Reisen schicken wirst, um sich in der Welt umzusehen; wie wäre es, wenn Du ihn hierher reisen ließest, damit ich ihn ein halbes Jährchen oder so was als Gast bei mir haben könnte, die Zeit wollte ich ihm schon kurz machen, und in Berdjansk, wohin ich ihn mitnehmen würde, könnte er Nationen der halben Welt sehen und so viel Kauderwelsch hören, dass er nicht klug daraus würde; russisch, griechisch, italienisch, französisch, deutsch und türkisch sind die gewöhnlichen Sprachen, außer diesen sind aber wohl noch ein Dutzend anderer, die da gesprochen werden. Im vergangenen Herbst, wo ich in Berdjansk war, erhielt ich eine Einladung vom römischen Konsul zum Mittagsessen, das Tischgespräch wurde in russischer, italienischer, französischer und zwischen mir und dem englischen Konsulats-Sekretär in deutscher Sprache geführt. Beherzige, lieber Bruder, meinen Vorschlag, und wenn Dein Sohn reisen wird, schicke ihn hier her.
Ein Seifensieder Namens Karl Preußer aus Siebenlehn in Sachsen, welcher bei Hermann Schmidt am unteren Tore gearbeitet hat, halt sich in hiesiger Gegend auf und lässt seinen ehemaligen Prinzipal vielmals grüßen.
Bald hätte ich vergessen, Euch zu melden, dass auch wir eine Eisenbahn hierher bekommen, dieselbe kommt von Petersburg nach Moskau, von da über Kursk, Charkow hierdurch nach Feodosia in der Krim, diesen Sommer soll stark daran gearbeitet werden, die Telegraphenstangen längs der Bahnlinie stehen bereits.
Nun wird es aber bald Zeit zum Schließen, zuvor, lieber Louis, muss ich Dich noch bitten, dass, wenn der Karl mir wieder schreibt, Du mir auch ein paar Zeilen einlegst, ich muss Dir's nur geradeheraus sagen, dass Du so faul im Schreiben bist; vielleicht hindern Dich auch Deine Amtsgeschäfte daran, das weiß ich nicht, da musst Du schon einen Sonntag oder Feiertag zur Hülfe nehmen.
Grüßt alle Verwandte, Freunde und Bekannte vielmals von mir, insbesondere grüßt alle seine lieben Geschwister und deren Familien Euer Euch ewig liebender Bruder
F. Huth nebst Familie
Heinrike, Schwägerin Katharina in Bröden, Seifensieder Karl Schmidt, Ollo Göbel und Gastwirt Bernhard Müller von mir zu grüßen nicht zu vergessen.
Warum schreibt mir der Robert nicht einmal? Bin ich nicht sein Bruder!!!