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Brief vom ? November 1855 - Alt-Nassau

(teils nicht leserlich oder unsicher entzifferbar)
Vielgeliebte Geschwister!
Endlich am 28. September a.St. erhielt ich Deinen Brief, lieber Bruder Carl, d.d. 9.September. Ich war eben im Begriff, mich an den Magistrat in Pößneck zu wenden, um (2 Wörter unleserlich). Auskünfte über Euch zu erlangen, denn ich konnte nicht daran glauben, die ganze Familie sei ausgestorben, (nicht leserlich) dass ein Brief von Euch verlorengegangen ist; um Euch nicht in (nicht leserlich) Besorgnisse zu versetzen und Euch nicht um die gewünschte Neujahrsfreude zu bringen, beantworte ich Euch Euren Brief jetzt schon wieder, obgleich es mir kaum möglich ist, in meinem Dienst so viel Zeit zu entnehmen, als zum Schreiben nötig ist, denn ich werde jetzt so in Anspruch genommen, dass ich oft nicht weiß, wo mir der Kopf steht, den Tag über habe ich mich mit meinen 140 Schulkindern herumzuärgern, des Abends (nicht leserlich) fast immer bis Mitternacht habe ich teils im Schulzenamte, teils zuhause zu sitzen, zu rechnen und zu schreiben, die Akten zu ordnen, Journal zu führen und Tabellen und Jahres(nicht leserlich) anzufertigen; in Folge der Kriegsverhältnisse gibt es mehr als noch so viel zu schreiben als früher; durch diese Anstrengungen leide ich seit einiger Zeit an Brustschmerzen, an den Augen habe ich schon früher gelitten, so dass ich seit 2 Jahren bei Lichte ohne Brille (nicht) lesen oder schreiben kann. Infolgedessen und weil ich unter diesen Umständen mich nur wenig mit der (nicht leserlich) beschäftigen kann, habe ich mich entschlossen, meinen Dienst, der immer zum 1. April endet, aufzugeben, zu Neujahr ist der Kündigungstermin, da werde ich aufkündigen, da ohnedem jetzt hier alle Geschäfte und Handel so gehen wie noch nie, Geld rollt hier genug und ist auch viel Geld zu verdienen; wenn ich nur 112 Dutzend Seilergesellen bis zum Frühjahr haben könnte, Arbeit wäre genug für sie, und Lohn würde ich ihnen so viel geben, wie sie in Deutschland nirgends verdienten, den größten Lohn bekommen hier wohl jetzt die Stellmacher und Schmiedegesellen, letztere monatlich 20 bis 30 Rubel Silber.
Nun, lieber Bruder Carl, muss ich Dir zuerst Deine Fragen beantworten. Sewastopol hegt von hier 350 Werst und das Gouvernement Taurien enthalt die Halbinsel Krim und den Landstrich zwischen Faulen und Asowschen Meere einerseits und dem Fluss Dnjepr andererseits bis zum Flüsschen Konske, so dass Alexandrowsk und Mariupol schon im Gouvernement Jekaterianoslaw liegen, die Molotschaner Kolonien aber auf der auf den Karten angegebenen „Nogaischen Steppe“ befindlich sind, und wenn Du eine Linie von Alexandrowsk nach Berdjansk ziehen würdest, so träfest Du die Kolonien Prischib und Halbstadt (die Central-Kolonien wie die Bezirksämter sind Prischib oder Molotschna des Kolonisten- und Halbstadt des Mennoniten-Bezirks oder Gebietsamt). Beide erwähnte Kolonien liegen nur 2 Wersten von hier entfernt. Von hier nach Berdjansk sind 100 Wersten, bis Alexandrowsk aber nur 80 Wersten. Nun wirst Du wohl die Gegend herausfinden, wo ich wohne, denn die (nicht leserlich) erwähnten beiden Städte sind Kreisstädte und auf allen Karten verzeichnet.
Zu Eurer Beruhigung muss ich auch noch erwähnen, dass die Cholera längst erloschen ist und dass es bei den wenigen Opfern blieb, die sie in Prischib forderte und wovon ich Euch bereits in meinem vorigen Brief schrieb.
Wenn nur erst wieder Ruhe und Frieden ins Land eingekehrt sein wird, dann wird sich mit der Zeit auch eine Aussicht zu einer Besuchsreise in die Heimat darbieten, mehrere Eisenbahnen sind im hiesigen Reiche (nicht leserlich); auch wird die Donauschifffahrt durch die Seite durchprojektierte Arbeiten.
Wenn mir Gott nur Gesundheit schenkt, so kann uns die Freude des Wiedersehens noch zu Teil werden. Wo befindet sich jetzt der Bernhard? Wird er mich noch besuchen? Ich kann freilich wenig zu seiner Reise hierher beitragen, Verschreibung kann nur ein Edelmann oder eine ganze Gemeinde erteilen, und das ist mit ungeheuren Schwierigkeiten verknüpft, und Reisegeld kann ich ihm ebenfalls nicht schicken, denn es wird kein Geld auf der Post angenommen, um solches über die Grenzen zu schicken, aber trotzdem würde es dem Bernhard möglich sein herzukommen, wenn er ernstlich wollte.
Vorige Woche sind wieder einige Leute aus Westpreußen hier angekommen, die ohne weiteres vom russischen Konsul in Danzig einen Reisepass hierher, um Freunde zu besuchen, erteilt bekamen. Wer erst hier ist, bekommt auch von Jahr zu Jahr ein Aufenthaltsbillet vom Gouverneur.
Nun auch herzlichen Dank für die schönen lithographischen Briefbögen. Wer ist der Lithograph O. Trautmann (?Carl Trautmann (1804-1874), deutscher Lithograf?). Kenne ich denselben nicht? Und wo steht Eberleins Fabrik? Was für Maler Thalmanns Tochter ist denn Karl Schmidt seine Frau, ich kenne nur einen Dreher Thalmann, der wohl schon lange tot sein wird, und dessen ältesten Sohn Louis Thalmann, dem ich unvorsichtigerweise einmal ein tüchtiges Loch in den Kopf warf.
Was macht mein Meister Gerhardt und seine Töchter? Die älteste muss schon hübsch herangewachsen sein, hab sie manchmal auf den Knien geschaukelt; auch möchte ich gerne wissen, was Karl Schmidt und (nicht leserlich) Mundkoch Bernhard Müller, meine alten Freunde, machen, sind beide etabliert und verheiratet? Dem Ollo Göbel laß ich zu seiner jungen (nicht leserlich) Frau gratulieren. Ist es seine erste Heirat?
Außer Beantwortung dieser Fragen schreibt mir recht bald recht viele Neuigkeiten, sowohl in Familienangelegenheiten als auch anderen städtischen Bedeutungen.
Ich kann Euch vom Kriegsschauplatze wenig Neuigkeiten mittheilen, denn es ist jetzt schon lange nichts Bedeutendes vorgefallen, aber Militär, besonders Landwehr (Ratniki nach der Reihe, Mann für Mann) sind massenweise hierdurch nach der Krim gezogen. Man sollte meinen, die Krim müsste von solcher ungeheuren Menschenmasse versinken.
Furcht vor die Feinde hat man hier durchaus nicht, ehe sie hierher kommen, werden sie ermüdet oder geschlagen sein, jeder Fußbreit Land wird ihnen streitig gemacht werden. -ich muss nun schließen und bitte, den Vetter Fritz sowie auch Ha Gerhardt wie überhaupt alle meine Bekannte und Freunde, insbesondere aber alle lieben Anverwandten vielmals zu grüßen und verbleibe unter vielen herzlichen Grüßen von mir und meiner Familie, insbesondere an Euch, meine lieben Geschwister, Euer Euch ewig liebender Bruder
F. Huth
Beiliegende paar Zeilen bitte ich der Agnes zu senden.
D. Obige